Freitag, 2. März 2012

Rede des Präsidenten des Europäischen Parlaments Martin Schulz


Martin Schulz -Frühjahrsgipfel – 1. März 2012


Sehr geehrte Damen und Herren,


wir alle hier im Saal wissen um die aufgeheizte Stimmung vor den sogenannten Krisengipfeln, die jeweils als “Durchbruch” angekündigt wurden. Heute findet zum ersten Mal seit zwei Jahren ein “normaler Gipfel” statt – das empfinde ich als Durchbruch. Gerade weil es uns in die Lage versetzt, mit der gebotenen Ruhe und Konzentration die ja weiterhin bestehenden Probleme anzugehen.


Wie ernst die Lage immer noch ist, wurde mir bei meinem Besuch in Athen in dieser Woche wieder drastisch bewusst. Selten hat mich eine Reise so tief bewegt und erschüttert. Deshalb möchte ich Ihnen ans Herz legen, mit jenen Menschen zu sprechen, die von Ihren Entscheidungen unmittelbar und oft sehr hart betroffen sind. Mit Menschen, die auf die Strasse gehen und demonstrieren; mit Rentnern, denen nach einem harten Arbeitsleben nun eine Kürzung nach der anderen zugemutet wird; mit jungen Menschen, die sich um ihre Zukunft betrogen fühlen. In Griechenland hat heute jeder zweite Jugendliche keinen Job. Eine solch hohe Jugendarbeitslosigkeit droht das soziale Gewebe einer ganzen Gesellschaft zu zerstören! In Europa sind sieben Millionen junge Menschen arbeitslos. Noch Viele mehr stecken in unsicheren Arbeitsverhältnissen fest; sind in einer Spirale aus Arbeitslosigkeit, Zeitverträgen und unbezahlten Praktika gefangen; einer Spirale, die all zu oft in Wut oder Resignation mündet. Das ist Gift für unsere Gesellschaften.


Mit Sorge beobachte ich, dass in vielen Teilen Europas Stereotypen, Vorurteile und gar Feindbilder wieder auf dem Vormarsch sind. Die Saat von Zwietracht, Groll und nationalen Egoismen ist ausgebracht. Diese aufgeheizte Stimmung hat den Nährboden dafür geschaffen, dass jetzt eine Partei, auf deren Unterstützung eine Regierung angewiesen ist, gar eine Hotline eröffnet, die offen Diskriminierung gegen Arbeiternehmer aus Zentral- und Osteuropa schürt. Es ist nicht hinnehmbar, dass es in Europa Bürger zweiter Klasse gibt. Die EU ist eine Wertegemeinschaft; Freizügigkeit und Nichtdiskriminierung sind grundlegende Säulen unseres Einigungswerkes.


Ich finde, dass der Europäische Rat sich diesen Verunglimpfungen und Pauschalurteilen entschieden entgegen stellen muss. In Ihren Schlussfolgerungen habe ich dazu kein einziges Wort gelesen. Sie, wir alle, müssen einschreiten gegen die Rückkehr von Denkweisen, die immer nur Unglück über die Völker Europas gebracht haben und auch die Gefahr bergen, die EU zu sprengen. Wir dürfen nicht in alte Fehler zurückfallen! Wir müssen in Europa einander Partner und nicht Gegner sein!


Wenn junge Menschen keine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt haben, entsteht ein zerstörerisches Potenzial, das die Grundlagen der Demokratie auszuhöhlen droht. Deshalb muss der Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit für uns alle die erste Pflicht sein. Wir müssen schnell Geld für Bildung und Qualifikation in die Hand nehmen – das sind Investitionen in die Zukunft von Menschen und ganzer Gesellschaften! Lassen Sie uns die Talente und die Motivation dieser Generation nicht vergeuden!


Griechenland steckt in einer tiefen Rezession. Die Arbeitslosigkeit ist auf über 20 Prozent geklettert und soll weiter steigen – eine Million Griechen sind heute bereits ohne Arbeit. Nach den großen Opfern, die von den Menschen in Griechenland zum Schuldenabbau erbracht wurden, muss aus Brüssel jetzt ein Hoffnungssignal kommen: Griechenland braucht eine Wachstumsinitiative!


Nicht nur für Griechenland, für ganz Europa gilt: Mit einer reinen Austeritätspolitik sparen wir uns zu Tode, die Wirtschaft wird regelrecht erdrosselt und unser Gesellschaftsmodell gefährdet. Zu lange hat sich das Krisenmanagement zu einseitig auf die Sparpolitik versteift. Das Europäische Parlament hat beständig an Sie appelliert, die zweite tragende Säule, die Wachstumspolitik, nicht zu vernachlässigen. Doch stattdessen wird die Sparschraube immer enger gedreht, die Armut und die Jobmisere dadurch immer weiter verschlimmert. Etwa durch den Stellenabbau im privaten und öffentlichen Sektor. Oder die Kürzungen von Sozialleistungen.


Jetzt mehren sich die Zeichen, dass wir mit unserer Forderung nach Wachstum auch beim Europäischen Rat endlich Gehör finden – zuletzt im Brief der 12, dem sich wie ich höre, bereits weitere Regierungschefs angeschlossen haben. Die Weiterentwicklung des Binnenmarktes kann dabei eine Lösungskomponente sein.


Nach dem ersten Schritt der Sparpolitik muss in einem zweiten Schritt jetzt endlich Wachstumspolitik folgen.


Für das Europäische Parlament steht fest: Haushaltskonsolidierung darf nicht zu Lasten der sozialen Gerechtigkeit gehen. Es widerspricht der Fairness, wenn ausgerechnet die Schwächsten die Last für die Finanzkrise aufgebürdet bekommen. Unser europäisches Sozialmodell ist nicht die Ursache, sondern ein Beitrag zur Lösung der Krise. Es widerspricht auch der ökonomischen Vernunft, Wirtschaften in die Rezession zu treiben. Das Europäische Parlament hat mich deshalb beauftragt, Ihnen folgende Forderungen zu übermitteln:


Erstens, wir fordern von Ihnen, endlich den politischen Willen unter Beweis zu stellen, die Europa 2020-Ziele – unsere ehrgeizige Strategie für Wachstum und Beschäftigung – auch umzusetzen. Investitionen sollten gerade jetzt in wachstumsfreundlichen Feldern wie Forschung, Infrastruktur, Energie und Innovation erfolgen – um das Wachstum anzukurbeln, um Jobs zu schaffen und um den Menschen ein würdiges Leben zu ermöglichen!


Den Worten müssen endlich Taten folgen! Wir können nicht ehrgeizige Europa 2020-Ziele formulieren, die hier groß verkündet und dann in den nationalen Hauptstädten nicht eingehalten werden. Weil die nationalen Ziele dahinter zurückbleiben. Weil nicht ausreichend Mittel in den nationalen Haushalten bereitgestellt werden.


Dies müssen wir auch bei der bevorstehenden Diskussion um die zukünftige finanzielle Vorausschau im Auge behalten. Der EU-Haushalt ist kein Defizithaushalt sondern ein Umlagehaushalt – die größte wachstumsstimulierende Maßnahme. Wenn Sie den EU-Haushalt kürzen, dann kürzen Sie Ihre eigenen Wachstumspotenziale. Das gilt auch für Netto-Zahler wie etwa Deutschland. Erlauben Sie mir bitte dieses Beispiel, Frau Bundeskanzlerin. Fallen nämlich die EU-Gelder aus der Kohäsionspolitik weg, kommen die Bundesländer und die Regionen in anderen Mitgliedsländern in die Bredouille bei der Finanzierung von Strukturmaßnahmen. Die Kürzung des EU-Haushalts mag sich gut anhören, zunächst öffentlich populär sein, langfristig ist sie aber ein Eigentor.


Zweitens, wir wollen Jobs durch gezielte Investitionen und Steuerreformen schaffen. Indem wir Steuerhinterziehung bekämpfen und gemeinsam gegen Steueroasen vorgehen. Eine Botschaft aus Athen für Sie ist, dass jeder, mit dem ich dort sprach, mir versicherte, Maßnahmen zur Bekämpfung der Steuerflucht und der Rückgewinnung dieser Steuergelder seien auch ein wichtiges psychologisches Signal für soziale Gerechtigkeit. Die Regierung von Herrn Monti beweist gerade, dass das gut funktioniert. Bilaterale Abkommen zwischen Griechenland und anderen Staaten zur Rückgewinnung von Steuergeldern sind deshalb ein wichtiger Schritt. Auch wenn langfristig eine EU-Richtlinie sicherlich sinnvoll ist. Darüber habe ich erst vorgestern mit Herrn Papademos diskutiert.


Wir wollen Jobs schaffen, indem wir die Umwelttechnologie, die Gesundheits- und Sozialdienste, die digitale Wirtschaft sowie die kleinen und mittleren Unternehmen gezielt fördern; indem wir Gelder aus den Strukturfonds rasch auszahlen; indem wir die Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen; indem wir es Frauen durch den Ausbau von Pflege und Kinderbetreuung erleichtern, arbeiten zu gehen; indem wir Bildung, Weiterbildung und lebenslanges Lernen ermöglichen; indem wir durch die Bezahlung angemessener Löhne die Binnennachfrage in den Überschussländern ankurbeln.


Drittens, wir fordern die Sicherstellung der langfristigen Finanzierung der Realwirtschaft. Wie wollen wir das erreichen? Durch die fortgesetzte Regulierung und Beaufsichtigung des Finanzsektors. Durch die Stärkung der Eigenkapitalausstattung der Banken.


Durch die Reglementierung der Vergütungssysteme. Exorbitante Boni einerseits und Kürzungen staatlicher Leistungen andererseits zerstören den gesellschaftlichen Zusammenhalt.


Bereits in meiner letzten Rede vor Ihnen habe ich für die rasche Einführung von Projektbonds zur Finanzierung von Investitionen und der Finanztransaktionssteuer plädiert. Wir wollen mit beidem zügig voranschreiten. Denn wir können es uns im Kampf und Jobs und Wachstum nicht erlauben, wertvolle Zeit ungenützt verstreichen zu lassen.


Ganz grundsätzlich steht für uns fest: Wir brauchen eine stärkere wirtschaftspolitische Steuerung auf europäischer Ebene, um zu verhindern, dass große Haushaltsdefizite und makroökonomische Ungleichgewichte den Euro und die Wirtschaft in Europa gefährden. Deshalb ist es unerlässlich, dass Sie das Europäische Semester und den Jahreswachstumsbericht ernst nehmen. Doch ohne ein Mehr an Parlamentarismus wird es nicht gehen!


Erlauben Sie mir deshalb erneut an Sie zu appellieren, uns Volksvertreter stärker in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen! Wir wollen unserer Verantwortung für die Bürgerinnen und Bürgern gerecht werden! Doch noch immer schließen Sie uns bei Fragen, die das Leben der Menschen im Kern betreffen, aus.


Die fehlende Mitwirkung bei Ratsentscheidungen missfällt uns beim Europäischen Semester besonders. Müssen hier die Mitgliedsstaaten ihre Haushaltpläne doch bereits ein halbes Jahr, bevor die nationalen Parlamente darüber abstimmen, der Kommission zur Überprüfung vorlegen. Wir sind der Meinung: was den nationalen Parlamenten an Rechenschafts- und Kontrollrechten entzogen wird, muss dem Europäischen Parlament umgehend übertragen werden. Bislang dürfen wir europäische Volksvertreter lediglich eine Stellungnahme zu den jährlichen Vorschlägen der Kommission für die Beschäftigungsleitlinien abgeben. Wir wollen jedoch konkrete Änderungen auch für die politischen Leitlinien und den Jahreswachstumsbericht vorschlagen, und zwar dergestalt, dass die Kommission einen Text vorlegt und das Europäische Parlament diesen abändern kann, bevor er an den Rat geht. Damit würde der Entparlamentarisierung Europas entgegengewirkt.





Die EU ist eine Rechtsgemeinschaft.


Wir haben festgelegt, dass alle europäischen Staaten, wenn sie bestimmte Kriterien erfüllen, EU-Beitrittskandidat werden können. Serbien erfüllt diese Bedingungen und muss daher den Kandidatenstatus erhalten.


Die Beitrittsverträge von Bulgarien und Rumänien von 2005 legen Kriterien zum Beitritt beider Länder zum Schengen-Raum fest. Wenn diese Bedingungen erfüllt werden, haben diese Länder das Anrecht auf Beitritt zum Schengen-Raum. Im letzten Jahr hat der Rat einstimmig bestätigt, dass Rumänien und Bulgarien diese Kriterien erfüllen.




Sollte Serbien jetzt keinen Kandidatenstatus erhalten, sollten Bulgarien und Rumänien nicht zum Schengenraum zugelassen werden, weil einzelne Staaten dies aus rein politischen Erwägungen blockieren, dann ist das nicht länger das Verhalten einer Rechtsgemeinschaft sondern das Verhalten einer Willkürunion.


Vor einem Jahr begann hoffnungsfroh der Arabische Frühling. Vielen unserer Nachbarvölkern hat er Freiheit gebracht. Wir konnten bei den Wahlen in Tunesien, Ägypten und zuletzt in Jemen, die strahlenden Gesichter von Menschen sehen, die zum ersten Mal ihr Wahlrecht frei und geheim ausüben durften. Diese strahlenden Gesichter erinnern uns daran, dass jede Gesellschaft zwar ihren eigenen Realitäten und Zwängen unterliegen mag, doch uns alle der Traum eint, frei darüber zu bestimmen, wer uns regiert.


Dem Europäischen Parlament kommt in diesem Transformationsprozess eine besondere Verantwortung zu. Wir wollen diesen jungen Parlamenten Freund und Partner sein. Wir wollen einen offenen und beständigen Dialog mit ihnen führen. Gerade unsere Abgeordneten aus mittel- und osteuropäischen Ländern können durch ihre eigenen Erfahrungen gute Ratgeber im demokratischen Transformationsprozess sein. Die parlamentarische Versammlung der Union für das Mittelmeer bietet hierfür einen geeigneten Rahmen an, und wir freuen uns auf die Zusammenarbeit mit unseren neuen Kolleginnen und Kollegen. Denn den Parlamenten wird in den kommenden Jahren eine Schlüsselrolle dabei zukommen, das Freiheits-Versprechen des Arabischen Frühlings in den neuen Verfassungen einzulösen.


Doch der Arabische Frühling hat nicht all unseren südlichen Nachbarn Freiheit geschenkt. In Syrien nimmt das Blutvergießen kein Ende. Erhöhen Sie den Druck auf jene Mächte im Sicherheitsrat, die uns daran hindern, wirkungsvolle Maßnahmen gegen Syrien zu ergreifen.


Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit


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